Den Tag, an dem wir ein Kind geboren haben, werden wir unser Leben lang nicht vergessen, soviel ist klar. Was allerdings schon nach kurzer Zeit passieren kann, ist, dass wir Details über die Geburt vergessen. Vielleicht wollen wir manche Details auch ganz bewusst verdrängen. Oder Menschen, die bei der Geburt dabei waren, erzählen Momente der Geburt ganz anders, als wir sie selbst empfunden haben und irgendwann wissen wir nicht mehr, wie es jetzt eigentlich wirklich war. Dieser Beitrag ist ein Gastartikel von Katharina Tolle, die dir gute Gründe nennt, warum es sinnvoll ist, seine Geburtserfahrung aufzuschreiben. Außerdem gibt sie dir drei konkrete Schreibtipps, sodass du vielleicht endlich ins Handeln kommst, und loslegst. Die Geburtsgeschichten von meinen zwei selbstbestimmten Hausgeburten findest du übrigens hier.

Gastartikel

Geburtserfahrungen werden verglichen, einsortiert und bewertet

„Wow, da hattest du ja eine Traumgeburt! So schnell und unkompliziert!“ Das hörte eine meiner Kundinnen, nachdem sie ihr zweites Kind innerhalb weniger Stunden zu Hause zur Welt gebracht hatte. Das Baby war gesund, die Mutter war gesund. Die Plazentageburt verlief genauso unproblematisch. Das Stillen klappte sofort. Und dennoch war es für sie keine Traumgeburt. Sie hatte sich auf den langsamen Prozess gefreut. Sie war davon überzeugt, dass sie dieses Übergangsritual bräuchte. Sie fühlte sich in gewisser Hinsicht betrogen um eine intensive Geburt.

Solche Geschichten höre ich häufig. Immer wieder erklären mir Frauen, dass ihr Umfeld in einer Weise ihre Geburtserfahrungen kommentiert, die nicht mit der eigenen Wahrnehmung übereinstimmt. Manchmal werden erhebende Geburtserlebnisse kleingeredet. Manchmal werden schmerzhafte oder gar gewaltvolle Geburten relativiert. Oder es werden „Traumgeburten“ herbeigeredet und manchmal zerpflückt.

Manchmal geht es auch bloß um Details: „Warum hast du denn dann doch nicht im Wasser geboren? Das wäre so viel entspannter gewesen!“ „Tja, du wolltest doch unbedingt deine Mutter dabei haben.“

Mal sind es Verwandte oder Freund*innen, die entsprechend kommentieren; manchmal ist es medizinisches Fachpersonal.

Egal, in welche Richtung: Wer über die Geburt eines Kindes spricht, erntet in den seltensten Fällen einfach nur Verständnis. Viel häufiger wird sofort verglichen, einsortiert und bewertet. Manche Menschen tun das bewusst, andere eher unbewusst.

Als Konsequenz aus diesem Verhalten können wir über unsere Erfahrungen schweigen. Dann bleiben sie bei uns. Wir lassen dann nicht zu, dass jemand sie umdeutet.

Übernimm Verantwortung für deine Geburtserfahrung!

Die andere Möglichkeit ist, dass wir uns die Verantwortung für unsere Geschichte nicht nehmen lassen. Wir können proaktiv genau unsere Geburtsgeschichte aufschreiben und uns so die Deutungshoheit über unser Erlebnis bewahren oder zurückholen. So übernehmen wir die Verantwortung für unsere Gefühle – selbst dann, wenn wir die Verantwortung für medizinische Entscheidungen abgegeben haben. (Medizinische Begleitung ist nicht grundsätzlich schlecht. Sie hat Vor- und Nachteile. Schau dir zum Beispiel mal Sophies Gedanken zu medizinischen Untersuchungen während der Schwangerschaft an.)

Dabei kann es helfen, die eigene Geschichte aufzuschreiben, und zwar in allen Details.

Das klingt allerdings für viele Mütter einfacher, als es ist. Denn während die einen einfach runter schreiben, was ihnen in den Sinn kommt, stocken die anderen aufgrund unguter Gefühle oder innerer Widersprüche. Sie wollen sich frei machen von äußeren Vorstellungen, kommen aber doch immer wieder darauf zurück. Wenn es ganz schlimm wird, halten dich diese Gedanken sogar davon ab, deine Geschichte überhaupt je aufzuschreiben.

Wenn dann irgendwann dein Kind die Frage stellt: „Wie bin ich auf die Welt gekommen?“, wirst du dich vielleicht an manches erinnern, an manches aber auch nicht. Das wäre doch schade.

Folgende Herangehensweisen können dir helfen, deine Geburtserfahrungen aufzuschreiben, obwohl du hin und her gerissen bist zwischen deiner Erinnerung und der Wertung anderer.

1. Schreib eine Geschichte, keinen Bericht – Subjektivität ist okay

Mach dir bewusst, dass es nicht um die Ausformulierung des medizinischen Geburtsberichtes geht. Der Geburtsbericht konzentriert sich auf das medizinisch Interessante. Er suggeriert damit Subjektivität, die allerdings gar nicht gegeben ist. Ob nämlich das medizinische Personal einen bestimmten Aspekt einträgt oder nicht, ist immer noch eine persönliche Entscheidung. Außerdem werden Geburtsberichte in Kliniken manchmal auch erst im Nachhinein geschrieben oder vervollständigt. Bei knappem Personal geht die Dokumentation schon mal unter.

Löse dich deshalb von der Vorstellung, der Geburtsbericht würde die einzige Wahrheit darstellen. Er ist subjektiv, manchmal lückenhaft und manchmal stehen sogar schlicht „Fakten“ drin, die so nicht stimmen. Im Eifer der Geburt passiert das.

Du schreibst dagegen deine Geschichte und keinen genormten Bericht. Deine Geschichte ruht auf deinen Erfahrungen. Wenn du dazu noch die Daten aus dem Mutterpass oder dem Geburtsbericht aufnehmen willst, kannst du das tun. Du kannst sie aber auch getrost ignorieren.

2. Mach die Unterschiede explizit

Egal, ob es um die Inhalte des Geburtsberichtes geht oder um die mündliche Meinung anderer zu deiner Geburt: Es kann helfen, die unterschiedlichen Wahrnehmungen als solche in deine Geschichte aufzunehmen. So kannst du zum Beispiel schreiben: „Die nächsten drei Stunden hatte ich intensive Wellen. Ich fühlte mich gut und war davon überzeugt, dass die Geburt gut voran ging. Bei der nächsten Kontrolluntersuchung war die Hebamme allerdings der Meinung, dass der Geburtsfortschritt zu langsam sei. Ich war überrascht. Das deckte sich so gar nicht mit meinen Empfindungen.“

Du bleibst in diesem Beispiel bei deiner Geschichte. Deine Erfahrung steht im Mittelpunkt. Die Ansicht anderer Personen erwähnst du. Dabei konzentrierst du dich nicht darauf, ihren Standpunkt zu erklären, sondern legst dar, welche Auswirkung dieser Widerspruch für dich hatte.

3. Ziehe Kraft aus der Geschichte

Wir lassen uns vor allem dann von außen beeinflussen, wenn wir selber nicht wissen, wie etwas zu bewerten ist. Steht dagegen unsere Meinung auf sicherem Grund, können uns Bewertungen von außen nicht so schnell aus der Bahn hauen.

Beim Aufschreiben deiner Geschichte hilft dir deshalb dieser Leitgedanke: Jede Geburtserfahrung ist einzigartig und wertvoll. Sie hilft mir, zu wachsen und mich weiterzuentwickeln.

Je nachdem, wie die Geburt deines Kindes verlief, mag das extrem zynisch für dich klingen. Schmerzen, Gewalt und Verlust tun weh. Ich will diese Gefühle nicht relativieren. Sie brauchen eine Zeit und einen Ausdruck. Nimm dir die nötige Zeit und hab keine Angst, um Unterstützung zu bitten. Die Wahrheit ist: Du kannst an solchen Erfahrungen zerbrechen. Und du kannst daran wachsen.

Erzähl deine Geschichte so, wie du sie erlebt hast. Das hilft dir dabei, sie anzunehmen. Gerade bei Widersprüchen zwischen Innen- und Außenwahrnehmung solltest du dich auf deine subjektive Geschichte berufen.

Was kann ich der Welt zurückgeben?

Die daraus entstehende Kraft kann dein Leben verändern. Sei dir bewusst, dass die Einordnung anderer Personen mehr darüber aussagt, wie sie die Welt sehen, als darüber, wie du dich gefühlt hast. Nimm also die Ungereimtheiten an und frage dich: Wie hat mich diese Erfahrung verändert und was kann ich der Welt deshalb zurückgeben? Das kann, je nach Geschichte, etwas ganz Unterschiedliches sein.

  • Vielleicht unterstützt du nach einer ungeplanten schnellen Alleingeburt die Möglichkeiten, zu Hause zu gebären.
  • Vielleicht setzt du dich für mehr Hebammen in Kreißsälen ein, damit sich die Gebärenden besser versorgt fühlen.
  • Vielleicht startest du eine Karriere als Doula, um Frauen bei der Geburt zur Seite zu stehen.
  • Oder vielleicht führt es auch einfach nur dazu, dass du demnächst die Geschichten anderer Frauen nicht mehr bewertest, sondern einfach aufmerksam zuhörst und ihre Erfahrung als das annimmst, was sie ist: Ihre ganz persönliche subjektive Erfahrung.

Wandel deine Erfahrung in Stärke und Liebe um. Die Bewertungen von außen können dir dabei helfen, zu sehen, wo genau das Potential in deiner Erfahrung liegt.

Bonustipp: Sprich mit Menschen, die zuhören über deine Geburtserfahrung

Manchmal kann es helfen, vor dem Schreiben zu sprechen – und zwar mit Menschen, die zuhören, ohne zu werten. Vielleicht ist es deine Hebamme? Oder hast du das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein oder sie zur Verantwortung zu ziehen? Wie steht es mit deinem Partner oder deiner Partnerin? Oder einer Doula? Auch Coaches und Psychotherapeut*innen können erste Ansprechpersonen sein.

Wenn du willst, höre auch ich dir zu und schreibe deine Geburtserfahrungen gemeinsam mit dir auf. Wenn du daran Interesse hast, melde dich einfach bei mir!

Katharina Tolle ist Autorin von individuellen Geburtsgeschichten und bloggt auf Ich Gebäre über selbstbestimmte Geburten und feministische Geburtskultur. Sie hilft Frauen dabei, ihre eigenen Geburtserfahrungen aufzuschreiben. Denn sie ist davon überzeugt, dass jede Geschichte einzigartig und wertvoll ist. Sie ist Mama dreier Wuselkinder und eines Sternenkindes und liebt gute Bücher, nasse Wiesen und den Geruch von Kaffee. Das Trinken überlässt sie anderen. Mehr zu ihrer Arbeit erfährst du unter geburtsgeschichte.de oder ihrem Blog Ich Gebäre.

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Warum du deine Geburtserfahrung aufschreiben solltest + 3 konkrete Schreibtipps

Ein Kommentar zu „Warum du deine Geburtserfahrung aufschreiben solltest + 3 konkrete Schreibtipps

  • 2022-07-11 um 09:58 Uhr
    Permalink

    Ich persönlich kenne niemanden aus meinem Umfeld, der ihre Geburtserfahrungen konkret aufgeschrieben haben, aber mir gefällt die Idee. Ich bin in einem frühen Stadium schwanger und möchte eine Mutterschaftsvorsorge machen. Am besten wende ich mich dafür direkt an eine Frauenarztpraxis.

    Antworten

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