Eckst du mit deiner Einstellung auch manchmal in deinem Umfeld an und bekommst kritische Kommentare oder Fragen gestellt? Genau darum geht es im heutigen Gastbeitrag, einem neuen Artikel der Serie „Erzählcafé: Bindungsorientiertes Familienleben“, in der verschiedene Mamas ihre Gedanken teilen.

Die bisher erschienenen Artikel dieser Reihe sind:

Familienbett auf Umwegen | Erzählcafé: Bindungsorientiertes Familienleben Teil 1

Mein kleiner Tragling und der Kinderwagen | Erzählcafé: Bindungsorientiertes Familienleben Teil 2

Babyzeichensprache – andere(s) verstehen |Erzählcafé: Bindungsorientiertes Familienleben Teil 3

Die heutige Gastautorin ist Katharina Tolle, Mutter dreier Wuselkinder und eines Sternenkindes. Sie betreibt den Blog www.ichgebaere.com und die Vergleichsseite www.online-geburtsvorbereitungskurse.de. Ihr Ziel ist es, die vielfältigen Erfahrungen, die Frauen bei ihren Geburten sammeln, zu würdigen. Jede Geburt hat ihren Platz. Jede Geburtserfahrung ist vollwertig. Deshalb hilft Katharina Frauen, die ihre Erfahrungen aufschreiben wollen, denen dazu aber die Worte fehlen, beim Aufschreiben ihrer eigenen Geburtsgeschichten. Wenn du magst, schenkt Katharina dir ihre neunseitige Liste mit Impulsfragen zu deiner Geburtsgeschichte als Download. Hier kannst du dich eintragen.

Viel Freude beim Lesen ihrer Gedanken!

Umgang kritisches Umfeld

Gastartikel | Achtung. Dieser Beitrag könnte lang werden. Dafür ist ehrlich und persönlich.

Na, wie viel Mainstream ist in dir? Und in wie vielen Situationen stichst du aus der Masse heraus, weil du etwas anders machst, als die anderen?

Kokettierst du mit deinen Minderheitenmeinungen, oder versteckst du sie? Wärst du gerne in der Mehrheit?

Wenn du diesen Blog von Sophie liest, dann bist du vermutlich zumindest in manchen Punkten jenseits des Mainstreams. Ob du es nun willst, oder nicht.

In diesem Beitrag soll es darum gehen, wie du mit einem kritischen Umfeld umgehen kannst.

Genauer werde ich auf folgende Aspekte eingehen:

  • Was ist ein kritisches Umfeld?
  • In welchen Situationen stoßen wir auf ein kritisches Umfeld?
  • Wie gehe ich mit einem kritischen Umfeld um?

Was ist ein kritisches Umfeld?

Ein kritisches Umfeld erleben wir immer dann, wenn Menschen sich auseinander setzen mit dem, was wir tun. Neugierde oder Wissbegierigkeit sind deshalb Voraussetzungen für ein kritisches Umfeld. „Kritisch sein“ ist an sich erst mal wertfrei. „Kritisch“ sind wir immer, wenn wir Dinge hinterfragen, wenn wir Aussagen in den Kontext setzen und andere Meinungen einfließen lassen. Insofern können wir auch uns selbst gegenüber immer wieder (liebevoll und konstruktiv) kritisch sein. In diesem Beitrag soll es allerdings nicht um Selbstkritik gehen, sondern um Kritik von Außen – eben aus dem „Umfeld“.

Wir vertreten eine Position, und unsere Gegenüber fügen diese Position in ihr Weltbild ein. Manchmal klappt das ohne Reibung. In dem Fall passen wir in die Weltanschauung der anderen. Wir bekommen bestärkendes Feedback. Oder auch gar keines, weil unsere Meinung als so „normal“ angesehen wird, dass es nicht nötig ist, sie zu kommentieren.

In anderen Fällen passt unsere Ansicht nicht oder nur bedingt in das Weltbild der anderen Person. Über diese Situationen soll es in diesem Beitrag verstärkt gehen. Denn umgangssprachlich verwenden wir das Wort „kritisch“ nicht wie oben definiert, sondern als Abschwächung von „ablehnend“. Wer also kritisch ist, lehnt unsere Meinung ab – oder stimmt dieser zumindest erst mal nicht rundheraus zu. Auch in diesem Fall ist es möglich, dass wir keine Reaktion auf unsere Position erhalten. Wahrscheinlicher ist es aber, dass die Menschen uns auf irgendeine Art zeigen, dass sie mit unserer Position nicht einverstanden sind.

Nicht immer bricht sofort eine Diskussion vom Zaun. Manchmal äußern sich diese Unterschiede auch subtiler – oder erst später. In jedem Fall passt unsere Position nicht in das Gefüge.

Übrigens kann diese Einordnung „passt“ oder „passt nicht“ sehr schnell passieren. Für viele Situationen haben wir unsere Variationen von „passt“ nämlich schon sehr genau definiert. Es wäre also falsch, Menschen vorzuwerfen, dass sie sich mit unserer Position ja gar nicht auseinander gesetzt hätten. Ja, im Detail mag das stimmen. Aber die grobe Schublade passt schon mal nicht. Dann kann selbst ein einziger Satz oder ein kurzer Augenblick genügen, um das kritische Umfeld zu aktivieren.

Was ist mit Kritik mit Totschlagargumenten? Es gibt natürlich auch Menschen, die das oben genannte Kriterium nicht erfüllen: Diese Menschen erleben keine Neugierde oder Wissbegierigkeit. Sie sind selbst dann nicht offen für unsere Sicht der Dinge, wenn wir ihnen unsere Argumente liefern. Ich bezeichne diese Menschen ungern als kritisch. Kritik hat für mich immer etwas mit bewusster Auseinandersetzung zu tun – zumindest eben im zweiten Schritt. Dennoch werde ich weiter unten im Text auch darauf eingehen, wie du mit Menschen umgehen kannst, die Ablehnung ohne Auseinandersetzung mit der Thematik ausüben.

Okay. Jetzt ist also klar, wodurch ein kritisches Umfeld entsteht: Wir passen zumindest in bestimmten Aspekten nicht zu dem, was die andere Person erwartet. Als nächstes möchte ich einige typische Situationen beschreiben, in denen wir uns mit einem kritischen Umfeld konfrontiert sehen. Danach gehe ich dann auf die Frage ein, welche Strategien wir im Umgang mit solcher Kritik nutzen können.

Situationen jenseits des Mainstreams

Na, mit wie vielen dieser Situationen warst du bereits konfrontiert?

Langes Stillen oder Tandemstillen

Komisch eigentlich, dass das Stillen nach wie vor so ein kritisches Thema ist. Denn eigentlich wissen wir doch alle um die Vorteile von Muttermilch. Trotzdem kennen wir vermutlich alle solche Sprüche:

„Du verwöhnst deine Kinder!“

„Die lernen nie, auch mal fünf Minuten ohne dich klar zu kommen.“

„Du bist selbst Schuld, wenn deine Brüste danach nur noch leere Schläuche sind.“

„Also spätestens jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt, das große Kind abzustillen. Dann ist mehr Milch für den Säugling da.“

Klingt bekannt, oder? Und dann, auf einer etwas anderen Ebene:

„Muss das wirklich sein, dass Sie jetzt hier stillen?“

Familienbett

Unabhängig davon, ob ihr grundsätzlich alle zusammen in einem Bett schlaft, oder alle ein eigenes Bett habt und die Knirpse regelmäßig ins Elternbett kommen – Kritik ist euch gewiss!

„Die lernen nie, allein zu schlafen.“

„Du weißt schon, dass das zum plötzlichen Kindstod führt?“

„Also für mich wäre das ja nichts. Ich brauche meinen Schlaf.“

Windelfrei / Stoffwindeln

Sobald du nicht die „normalen“ Wegwerfwindeln nutzt, gehörst du einer Minderheit an. Nutzt du Stoffwindeln, kennst du vielleicht die folgenden Sprüche:

„Die halten doch gar nicht. Da läuft doch alles daneben.“

„Das ist mir zu viel Aufwand.“

„Wo kommen denn die Stoffe her? Sind die wirklich nachhaltiger?“

„Wenn du die Produktion mit einrechnest, haben die aber auch keine gute Ökobilanz, oder?“

„Ist das gesund, wenn das Kind die ganze Zeit feucht am Po ist?“

„Und wie wickelst du unterwegs?“

„Die sind mir zu teuer. Krass, dass du dir das leisten kannst.“

Wenn du deine Kinder so weit wie möglich windelfrei betreust, hörst du vielleicht folgende Sprüche:

„Damit baust du aber ganz schön viel Druck auf das Kind auf.“

„Bist du dir sicher, dass es dir dabei nicht nur um deine eigene Profilierung geht?“

Und für beide Varianten gelten wohl die folgenden Sprüche:

„Dafür muss man auch erst mal die Zeit haben.“

„Das Waschen der Windeln (oder der Kleidungsstücke, wenn das Abhalten nicht geklappt hat) verbraucht aber auch Wasser und Waschmittel. So umweltfreundlich ist das gar nicht.“

Tragen

Je kleiner das Baby, desto mehr wird das Tragen statt des Kinderwagens wieder zum Mainstream. Bei größeren Kindern dagegen oder wenn es um die Frage geht, ob Tragen oder im Bettchen liegen besser ist, kommen schnell kritische Fragen auf:

„Bekommst du davon keine Rückenschmerzen?“

„Du erziehst das Kind ja zur Faulheit, wenn du es andauern trägst.“

„Das Baby muss doch auch mal lernen, im Bett zu schlafen statt immer nur am Körper.“

Kindergartenfrei

Das kritische Umfeld in Bezug auf das Aufwachsen ohne Kindergarten geht gleich in zwei Richtungen. Einerseits wird die Entwicklung der Kinder in den Blick genommen, andererseits aber auch die familiäre Struktur.

„Hat dein Kind überhaupt Sozialkontakte?“

„Reicht dir das, den ganzen Tag Hausfrau und Mutter zu sein?“

„Wie könnt ihr euch das leisten mit nur einem Gehalt?“

Fernsehfrei

„Frei“ muss dabei kein absoluter Begriff sein. Es reicht oft schon, wenn in deiner Familie wesentlich weniger oder gezielter ferngesehen wird, als in anderen Familien.

„Das Kind wird ja süchtig, wenn es dann irgendwann mal Fernsehen darf. Gewöhnt es doch lieber langsam daran.“

„Es bringt nichts, den Kindern moderne Technik zu verwehren.“

„Dein Kind steht sozial komplett außen vor, wenn es nicht mitreden kann.“

„Dein Kind bekommt nicht mit, was in der Welt passiert.“

Mehrsprachige Erziehung

Dies gilt vor allem dann, wenn ihr eigentlich nicht in einem zweisprachigen Umfeld lebt. Also, wenn ihr im Haushalt alle die gleiche Muttersprache habt und diese Muttersprache auch in eurem direkten Umfeld die Standardsprache ist.

„Es wird nie lernen, die beiden Sprachen auseinander zu halten.“

„Es vergisst die zweite Sprache so oder so, sobald es in die Schule kommt.“

„Das ist aber schon ungerecht allen anderen gegenüber, die diese Sprache dann erst in der Schule lernen müssen.“

Erziehen ohne Schimpfen

Ob du es nun bedürfnisorientierte Erziehung nennst, oder Erziehen ohne Schimpfen, oder Nein aus Liebe, ist eigentlich egal. Und auch, wenn diese Konzepte (glücklicherweise!?) immer populärer werden, schlug dir vermutlich schon der eine oder andere Satz entgegen:

„Der Klaps auf den Po hat uns früher auch nicht geschadet.“

„Du lässt dich von deinen Kindern ausnutzen.“

„Deine Kinder werden mal von kleinen Tyrannen zu großen Tyrannen.“

„Du kannst denen das doch nicht durchgehen lassen.“

Impfen jenseits der Stiko-Empfehlung

Egal, ob du später impfst, als empfohlen, oder nur gewisse Impfungen durchführen lässt, oder deine Kinder ganz ohne Impfungen aufwachsen. Sobald jemand das mitbekommst, wirst du vermutlich Sätze entlang der folgenden Logik hören:

„Du gefährdest damit andere Kinder!“

„Willst du, dass dein Kind stirbt?“

„Du glaubst wohl auch an Globuli.“

„Wofür, glaubst du, haben die Leute, die diese Empfehlungen ausgeben, Medizin studiert?“

Hausgeburt oder Alleingeburt

Die Statistiken zeichnen ein klares Bild: Von 787.884 Geburten in Deutschland im Jahr 2017 fanden 777.820 in einem Krankenhaus statt. Das sind 98,7 Prozent. Hausgeburten sind also nicht der Standard. Wenn du eine Hausgeburt planst, bist du fast automatisch ein bunter Vogel. Typische kritische Anmerkungen sind in diesem Fall:

„Das ist gesundheitlich unverantwortlich!“

„Du gefährdest dein Leben und das deines Kindes oben drauf!“

„Das ist zu unsicher.“

„Wie machst du das ohne Schmerzmittel?“

„Das wäre mir zu Hause zu viel Matscherei.“

Das Beispiel zeigt bereits: Nicht jede Kritik ist in ihrer Substanz gleichwertig. Auf die Frage, wie du bloß eine Geburt ohne Schmerzmittel aushalten kannst, kannst du ganz entspannt antworten. Die Frage impliziert ja nur, dass dein*e Gegenüber sich eine Geburt ohne Schmerzmittel nicht vorstellen kann. Sie impliziert aber noch nicht, dass eine Geburt ohne Schmerzmittel prinzipiell unmöglich wäre. Die Aussage, eine Hausgeburt sei medizinisch unverantwortlich, ist da schon ein anderes Kaliber. Und genau mit diesen Unterschieden möchte ich mich im nächsten Kapitel befassen.

Wie gehe ich mit einem kritischen Umfeld um?

Wir unterscheiden also zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Kritik: „das würde ich persönlich anders machen“ und „das musst du anders machen!“

Außerdem unterscheiden wir zwischen einerseits denjenigen, die sich mit unserer Position beschäftigt haben und sie anders sehen als wir; und andererseits denjenigen, die sich mit unserer Position nicht beschäftigt haben, diese aber trotzdem falsch finden und das auch vermitteln.

Für mich persönlich sind die einfachsten Situationen diejenigen, in denen uns nicht grundsätzlich unsere Entscheidung abgesprochen wird, sondern die andere Person diese Entscheidung einfach so nicht getroffen hätte.

Das Beispiel der Schmerzmittel fällt in diese Kategorie.

In solchen Situationen ist es sinnvoll, gelassen und freundlich zu bleiben. Die Person greift uns nicht in unserer Integrität an. Sie sagt lediglich, dass sie mit ihrer Lebenserfahrung eine andere Entscheidung getroffen hätte. Sie lässt aber unsere Entscheidung zu. Wir brauchen uns also nicht künstlich aufzuregen oder uns bis aufs Blut verteidigen. Viel besser ist es, zuzuhören, und zu verstehen, warum dein*e Gegenüber zu einem anderen Ergebnis kommt.

Als Beispiel nehmen wir an, deine Freundin sagt, sie würde den ganzen Aufwand mit dem Englischsprechen sein lassen, weil das Kind die Sprache in der Schule noch früh genug lernt und es ihr im Alltag einfach zu viel ist. Sie sagt nicht, dass du mit deinem Kind jetzt also kein Englisch mehr sprechen darfst. Sie sagt einfach nur: Ihr wäre der Aufwand zu viel.

Wenn ihr euch Zeit nehmt für einander, kommt ihr vielleicht dahinter, wieso ihr zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt: Vielleicht fühlt sie selber sich nicht wohl mit Englisch und müsste sich extrem überwinden. Dafür fehlt ihr im Alltag aber die Kraft. Und da das Kind so oder so in der Schule englisch lernen wird, kommt sie zu dem Ergebnis, dass sie ihre Energie lieber in etwas anderes steckt.

Das ist okay. Sie entscheidet so, du entscheidest anders. Weil ihr Interesse an der jeweiligen Position der anderen Person hattet, konntet ihr klären, wieso das so ist.

Ein anderes Beispiel sind Stoffwindeln: Stell dir vor, deine Nachbarin hat keine eigene Waschmaschine, sondern wäscht im Waschsalon. Sie hat ganz andere Voraussetzungen. Wenn sie sagt „mir persönlich wäre das zu viel Aufwand“, meint sie es genau so: Für sie ganz persönlich wäre der Aufwand aufgrund ihrer speziellen Situation zu groß.

Aus einer solchen Situation eine künstlich hochgestochene Grundsatzdiskussion über die Vor- und Nachteile von Stoffwindeln zu entwickeln, bringt euch beiden nichts. Im Gegenteil ist es sehr wertvoll, wenn du dich in ihre Situation versetzen kannst. Würdest du ohne eigene Waschmaschine Stoffwindeln nutzen? Häufig ist es nämlich so: Wenn wir die gesammelten Erfahrungen einer anderen Person gemacht hätten, würden wir genau so handeln, wie diese Person handelt.

Etwas anderes ist es, wenn dein*e Gesprächspartner*in deine Entscheidung als grundsätzlich falsch ansieht. Das können relative Kleinigkeiten sein, wie das Stillen oder Öffentlichkeit (hier kommt ja niemand physisch zu Schaden), oder eben Fragen, bei denen es (subjektiv wahrgenommen zumindest) um Leben und Tod geht. Wie eine Hausgeburt.

Wenn du eine Hausgeburt planst, kommt früher oder später der entscheidende Satz. Was, wenn es schief geht?

Strategien für kritische Gespräche

Am Beispiel der Hausgeburt möchte ich verschiedene Strategien für solche kritischen Gespräche aufzeigen. Das Prinzip gilt aber auch für kritische Fragen zu einem anderen Bereich (wie z.B. Impfen).

  1. Choose your battles – du brauchst nicht jede Herausforderung annehmen!
    Bevor du in eine Diskussion einsteigst, frage dich, ob dir diese Person wichtig genug ist, um mit ihr über das Thema zu sprechen. Eine Diskussion beim Mittagessen mit einem Kollegen, den du danach vermutlich ein ganzes Jahr lang nicht mehr siehst, kann extrem anstrengend sein – ohne langfristigen Nutzen. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass dich diese Gespräche Nerven und Energie kosten werden. Führ sie nur mit denjenigen Personen, die dir wichtig genug sind. Wer dir wichtig ist, kann hier ganz verschieden sein – für manche Personen ist der der*die Partner*in, für andere Menschen die eigene Mutter. Aber auch die Nachbarin kann wichtig sein. Fühl einfach in dich rein.
  2. Bestimme Zeit und Raum
    Nur, weil das Thema gerade jetzt auf kam, muss es nicht sofort bearbeitet werden.„Wenn du ernsthaft mit mir über das Thema sprechen willst, lass uns das in Ruhe machen. Wie wäre es Mittwochabend?“ Diese Vorgehensweise hilft auch, um festzustellen, ob die andere Person überhaupt ein so ernsthaftes Interesse an der Diskussion hat, dass sie sich dafür bewusst Zeit nimmt. Wenn das nämlich nicht der Fall ist, kannst du von einer dieser beiden Möglichkeiten ausgehen: Entweder war es nur ein dummer Spruch, der aber tatsächlich auch wieder schnell vergessen ist und du dich darum nicht weiter kümmern musst; oder die Person ist nicht bereit, sich mit deiner Position auseinander zu setzen. Auch das ist ein wichtiger Hinweis für dich.

Strategien für kritische Gespräche

Am Beispiel der Hausgeburt möchte ich verschiedene Strategien für solche kritischen Gespräche aufzeigen. Das Prinzip gilt aber auch für kritische Fragen zu einem anderen Bereich (wie z.B. Impfen).

  1. Sei vorbereitet
    Kenne deine Position und die Fakten. Sinnvoll ist es immer, einige gute Quellen parat zu haben: Egal, um welches Thema es geht. Wisse, welche Bücher, Filme und Beiträge in Fachpublikationen du der anderen Person empfehlen willst. Einer*m Wissenschaftler*in solltest du dabei anderes Material empfehlen können, als einer Person, die wenig liest. Ich persönlich finde es auch angenehm, die Materialien der anderen Position zu kennen. Welche Publikationen stützen eher die Argumentation deines*r Gegenüber*s?
  2. Nimm die andere Person ernst und geh auf sie ein
    Selbst, wenn es um ein grundsätzliches „das sollte niemand tun“ geht, kommt diese Einstellung aus einer persönlichen Erfahrung oder Prägung. Sie ist in ihrer Ausprägung nur einfach so stark, dass sie über ihre persönlichen Wünsche hinaus geht. Es nutzt also nichts, einer Person ihre persönliche Erfahrung abzusprechen. Wenn dir gesagt wird, „deine Meinung zählt nicht!“, wirst du auch nicht bereit sein, die Argumente der anderen Person zu hören. Übrigens fällt auch der alte Satz „Das hat uns früher auch nicht geschadet“ (gerne auch „Das haben wir schon immer so gemacht“) in diese Kategorie. Menschen fühlen sich nun mal durch ihre Umgebung in ihrer Einschätzung bestätigt. Wenn eine ganze Generation so gehandelt hat, ist es eigentlich verständlich, dass man sich sicher ist, dass das auch okay so war. Sei also behutsam. Versetz deine*n Gegenüber nicht in die Position, sich für ein gesamtes Menschenleben rechtfertigen zu müssen. Provoziere nicht. Provokation hilft nicht. Niemandem. Sprich Menschen nicht ihren gesunden Menschenverstand ab. Das bringt auch nichts. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Mir wurde mein gesunder Menschenverstand „versehentlich“ abgesprochen. Zumindest hieß es im Nachhinein „ach, das hab ich doch gar nicht so gemeint!“ Da war das (argumentative) Kind aber bereits lange in den Brunnen gefallen.

    Quintessenz: Nimm die andere Person ernst. Oder brich die Diskussion ab, denn wenn du die andere Person nicht ernst nimmst, hat es das gleiche Ergebnis.
    Es gibt viele gute Bücher zu dem Thema der guten Kommunikation. Sie alle fußen auf einer einzigen Tatsache: Um andere zu überzeugen, musst du sie verstehen. Um andere zu verstehen, musst du ihnen zuhören. (Das ist übrigens aus meiner Sicht eines der Hauptprobleme in unserer Geburtsmedizin und Geburtshilfe. Wir haben kaum Zeit, um einander zu verstehen.) Manche der Bücher richten sich eher an Manager, andere fokussieren sich mehr auf die Familie. Die folgenden Bücher habe ich selber gelesen und empfehle sie gerne. Manche sind Erziehungsratgeber – aber die Grundsätze gelten auch für Gespräche mit Erwachsenen! Es handelt sich um Partnerlinks. Wenn du ein Produkt über den Link kaufst, erhalte ich eine kleine Provision, ohne dass du mehr zahlen musst.
    Für Familien: Thomas Gordon: FamilienkonferenzJesper Juul: Dein kompetentes KindNicola Schmidt: Erziehen ohne SchimpfenAdele Faber: Wie Sie reden, damit Ihr Kind zuhört Für Manager*innen, Selbstständige und Führungspersönlichkeiten: Stephen Covey: Die sieben Wege zur EffektivitätDouglas Stone: Offen gesagt.
  3. Welche Ängste hast du selber?
    Manchmal triggern dich Sätze anderer Menschen vor allem deshalb, weil sie deine eigenen Ängste wieder hoch kommen lassen. Und dann kommt das berühmte verletzte Tier: Wer sich in die Enge getrieben fühlt, greift an. Dies ist eine denkbar ungünstige Situation für ein offenes Gespräch. „Was machst du bei einem Nabelschnurvorfall?“ – Zack, und schon fängt dein Herz an, zu rasen. Ja, was genau machst du eigentlich bei einem Nabelschnurvorfall!? Mist, ich habe Angst vor einem Nabelschnurvorfall! Aber wenn ich das jetzt zugebe, kann ich dann noch vertreten, eine Hausgeburt zu haben!? Ja, kannst du. Die Entscheidung für oder gegen eine Hausgeburt ist immer deine. Niemand kann dir die Verantwortung abnehmen. Mein Tipp in diesen Situationen: Sei ehrlich! „Ja, die Sache mit dem Nabelschnurvorfall macht mir auch Sorgen. Statistisch gesehen ist das selten, aber wenn es vorkommt, weiß ich noch nicht so richtig, was ich mache. Ich will dazu auf jeden Fall noch mehr Informationen bekommen. Hast du vielleicht eine gute Quelle für mich?“ Mit einer solchen Formulierung nimmst du die Sorgen der anderen Person ernst, bleibst bei deiner Entscheidung und zeigst, dass du deine Sorgen und diejenigen anderer Menschen nicht einfach ignorierst.
  4. Braucht ihr eine gemeinsame Lösung?
    Es ist immer gut zu wissen, was es bedeutet, wenn ihr nicht auf eine gemeinsame Linie kommt. Bei deinem Arbeitskollegen kann es dir relativ egal sein, wenn er sein Kind nicht tragen will, sondern lieber im Kinderwagen schiebt. Selbst seine Einstellung zur Hausgeburt kann dir eigentlich egal sein. (Außer, er wird dich immer und immer wieder darauf ansprechen oder versucht, anderweitig deine Entscheidung zu untergraben. In diesem Fall hilft es, dir anderweitig Gleichgesinnte zu suchen. Zum Beispiel hier auf Sophies Blog.) Wenn es dagegen um deine*n Partner*in geht, ist die Lage eine andere. Und hier kommt für mich ins Spiel, um was es eigentlich konkret geht. Bei einer Hausgeburt ist meine persönliche Meinung: Die Mutter allein entscheidet, wo sie gebiert. Wenn es allerdings um Fragen wie das Impfen geht, ist es sowohl rechtlich als, aus meiner Sicht, auch moralisch geboten, dass die Erziehungsberechtigten miteinander sprechen und zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Um so wichtiger ist es in diesen Fällen, dass du tatsächlich versuchst, erst die Position des*der anderen zu verstehen – wirklich zu verstehen – und erst darauf aufbauend das Gespräch suchst.

Um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, hilft folgender Leitsatz:

  1. Choose your battles – du brauchst nicht jede Herausforderung annehmen!
    Bevor du in eine Diskussion einsteigst, frage dich, ob dir diese Person wichtig genug ist, um mit ihr über das Thema zu sprechen. Eine Diskussion beim Mittagessen mit einem Kollegen, den du danach vermutlich ein ganzes Jahr lang nicht mehr siehst, kann extrem anstrengend sein – ohne langfristigen Nutzen. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass dich diese Gespräche Nerven und Energie kosten werden. Führ sie nur mit denjenigen Personen, die dir wichtig genug sind. Wer dir wichtig ist, kann hier ganz verschieden sein – für manche Personen ist der der*die Partner*in, für andere Menschen die eigene Mutter. Aber auch die Nachbarin kann wichtig sein. Fühl einfach in dich rein.
  2. Bestimme Zeit und Raum
    Nur, weil das Thema gerade jetzt auf kam, muss es nicht sofort bearbeitet werden.„Wenn du ernsthaft mit mir über das Thema sprechen willst, lass uns das in Ruhe machen. Wie wäre es Mittwochabend?“ Diese Vorgehensweise hilft auch, um festzustellen, ob die andere Person überhaupt ein so ernsthaftes Interesse an der Diskussion hat, dass sie sich dafür bewusst Zeit nimmt. Wenn das nämlich nicht der Fall ist, kannst du von einer dieser beiden Möglichkeiten ausgehen: Entweder war es nur ein dummer Spruch, der aber tatsächlich auch wieder schnell vergessen ist und du dich darum nicht weiter kümmern musst; oder die Person ist nicht bereit, sich mit deiner Position auseinander zu setzen. Auch das ist ein wichtiger Hinweis für dich.

Kompromisse sind nicht faul!

Wertvolle Kompromisse finden

Wenn es darum geht, zwei Positionen unterschiedlicher Menschen zu einer Position zusammenzubringen, denken wir oft an eine Linie mit zwei Punkten. Meine Position ist ganz links, deine ganz rechts. Wir treffen uns irgendwo in der Mitte. Sprich: Ich rücke von meiner Position ab, du von deiner. Niemand erhält das, was wir ursprünglich wollten. In diesem Fall sind wir beide nicht so richtig zufrieden. Wir würden uns wünschen, ein anderes Ergebnis erzielt zu haben, doch wegen der Umstände (=der anderen Person!) war dies nicht möglich.

Dieses Bild eines Kompromisses ist nicht sehr vorteilhaft. Es geht aber auch anders: Stell dir wiederum eine Linie vor. Deine Position ist am einen Ende; die Position deiner*s Gesprächspartner*in ist am gegenüberliegenden Ende. Ihr sucht nun eine gemeinsame Lösung. Statt, dass ihr euch auf der Linie in der Mitte (oder irgendwo zwischen euren Positionen) trefft, trefft ihr euch oberhalb der ursprünglichen Linie.

Sprich: Wenn ihr beide eure Positionen, Bedenken und Wünsche, aber auch euer Engagement und euren Willen mit einbringt, seid ihr in der Lage, ein Ergebnis zu erzielen, das auf einer ganz anderen Ebene liegt. Allein hättest du diese Lösung nicht erreichen können. Das Prinzip erfordert einiges an Kreativität und Hirnschmalz. Um zu verdeutlichen, dass es sich lohnen kann, gibt es hier drei Beispiele:

  • Hausgeburt: Dein*e Partner*in will keine Hausgeburt, aber trotzdem bei der Geburt dabei sein. Du willst auf jeden Fall eine Hausgeburt. Im Gespräch klärt ihr verständnisvoll die Gründe für einander: Du willst zu Hause bleiben, weil es für dich wichtig ist, in deinem gewohnten Umfeld zu gebären. Du weißt aus Erfahrung, dass du anderswo nicht loslassen kannst. Dein*e Partner*in traut dir eine Geburt grundsätzlich überall zu. Das Problem ist, dass er/sie Angst davor hat, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen, falls etwas nicht klappt. Außerdem hat er*sie Bedenken, dich nicht so unterstützen zu können, wie du es gern möchtest. Hier kann es eine Lösung sein, nicht nur eine Hebamme (bzw. eine Hebammenteam) zur Hausgeburt hinzuzuziehen, sondern auch eine Doula. Diese kann explizit die unterstützenden Aufgaben übernehmen, die sonst bei deiner*m Partner*in liegen würden.
  • Kindergartenfrei: Deine Nachbarin findet es schwierig, dass dein Kind keinen Kindergarten besucht. Du magst deine Nachbarin sehr; ihre Meinung ist dir nicht egal. Du willst dein Kind nicht in den Kindergarten schicken. Mehrmals in der Woche besuchst du Kindersportangebote, Musikgruppen oder andere Termine, bei denen dein Nachwuchs Kontakt zu Gleichaltrigen hat. Im Gespräch stellt sich dann heraus: Ihr geht es gar nicht so sehr um deinen Nachwuchs – da sieht sie, dass sich genügend Gelegenheiten für soziale Kontakte bieten. Ihr geht es um dich: Sie meint, dass es dir gut täte, auch mal wieder ein bisschen Zeit für dich zu haben. „Früher bist du doch auch schwimmen gegangen, und es tat dir immer so gut!“ Die Lösung ist einfach: Ein Mal in der Woche spielt sie mit deinem Kind für anderthalb Stunden Brettspiele. Und du gehst schwimmen. Das Ergebnis kam aber nur zu Stande, weil ihr beide nicht einfach auf der Grundsatzdiskussion „Kindergarten – ja / nein“ bestanden habt.
  • Tragen oder Kinderwagen: Dein*e Partner*in hat gelesen, dass Babys besser getragen werden sollen statt geschoben. Du willst trotzdem einen Kinderwagen haben. Statt euch über die grundsätzlichen Fakten zum Tragen oder Schieben zu streiten, geht ihr in die Tiefe: Dabei kommt heraus: Ihr habt ganz unterschiedliche Situationen im Kopf. Bei dir geht es darum, wie du in der Elternzeit mit Baby auch noch die Einkäufe vom Geschäft nach Hause bekommen sollst. Du willst den Kinderwagen nutzen, um die Einkäufe unten drin zu verstauen. Dein*e Partner*in hatte dagegen gemütliche Spaziergänge im Kopf – die ihr auch gerne mal durch den Wald oder über Trampelpfade macht. Dort ist ein Kinderwagen eher ein Hindernis. Ihr entscheidet euch schließlich für beides. Aus Kostengründen wird es zuerst ein gebrauchter Kinderwagen sein (das hat so oder so den Vorteil, dass man in der Praxis erst mal genau testen kann, was man eigentlich will…) und dazu kauft ihr ein Tragetuch. Im Gegensatz zu anderen Tragen kann das Tuch nämlich von beiden Elternteilen genutzt werden – unabhängig von euren Körperumfängen.

Wie kritisch bist du deinem Umfeld gegenüber?

Wenn du diesen Text liest, geht dein Unterbewusstsein vermutlich davon aus, dass ich voll und ganz auf deiner Linie bin. Dass wir beide gemeinsam gegen den uninformierten Mainstream stehen. Du und ich! (Und Sophie und die anderen Leser*innen!) Und wie geht es dir jetzt dabei, wenn ich dir erzähle, dass alle meine Kinder bereits vor ihrem ersten Lebensjahr in der Kita waren?

„Oh, Mist. Die ist ja doch ganz anders, als gedacht.“

Vermutlich wird jetzt dein Verstand sofort in den Kritikmodus fallen. „Es gibt doch so viele gute Gründe, die Kinder nicht in die Kita zu geben! Wie kann sie nur?“ Ja, auf Sophies Blog bin ich wohl eine der wenigen, deren Kinder eine Kita besuchen. Jetzt seid ihr anderen also in der Mehrheit und ich in der Minderheit. Wie geht ihr nun damit um? Wie soll ich mich nun benehmen, in diesem kritischen Umfeld? Und wie benimmst du dich, in der Gewissheit, dass das Umfeld in diesem konkreten Fall mir gegenüber kritisch ist und dir gegenüber nicht?

Du brauchst auf diese Frage nicht zu antworten. Das Beispiel zeigt, wie schnell wir Menschen in Schubladen stecken. So funktioniert unser Gehirn. Wir können das nur begrenzt abschalten. Um so wichtiger ist es, dass wir es uns immer wieder ins Gedächtnis rufen – sowohl, wenn wir Menschen in Schubladen stecken, als auch, wenn wir von Menschen in Schubladen gesteckt werden.

Deshalb wünsche ich dir eine gehörige Portion Entspanntheit beim Umgang mit Kritik. Gepaart mit ehrlicher Selbstreflexion kann uns Kritik nützen.Berechtigte Kritik hilft uns, zu wachsen. Unberechtigte Kritik perlt einfach an uns ab. Und wenn wir selber Kritik üben, wissen wir: Je mehr es um Glaubenssätze, um Wertvorstellungen und persönliche Erfahrungen geht, desto schlechter sind die Chancen, eine Meinung zu ändern. Und wenn doch, dann wohl eher durch Empathie, Einfühlungsvermögen und offenes Interesse statt durch Anzweifeln des gesunden Menschenverstandes.

Ich wünsche dir alles Gute auf deinem Weg auf und jenseits des Mainstreams, in einem unterstützenden und einem kritischen Umfeld.

Berichte doch gerne in den Kommentaren davon, wie du mit kritischen Menschen in deinem Umfeld umgehst und was für Erfahrungen du gemacht hast.

Vom Umgang mit einem kritischen Umfeld | Erzählcafé: Bindungsorientiertes Familienleben Teil 4
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Ein Kommentar zu „Vom Umgang mit einem kritischen Umfeld | Erzählcafé: Bindungsorientiertes Familienleben Teil 4

  • 2020-06-08 um 15:50 Uhr
    Permalink

    Danke Sophie, für die Möglichkeit, diesen Beitrag zu schreiben. 🙂 Ich freue mich auf Kommentare und beteilige mich gern an der Diskussion!

    herzliche Grüße,
    Katharina

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